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AG Deutsch-JĂŒdische Geschichte

im

Verband der Geschichtslehrerinnen und -lehrer


Deutsc
hlands (VGD)

Handreichung:

Israel, Nahostkonflikt und israelbezogener Antisemitismus
Orientierung zum pÀdagogischen Handeln mit Bezug zum Geschichtsunterricht

Übersicht:

A. Problemaufriss
1. Die Geschichte verstehen
2. Antiisraelismus und Antisemitismus
3. PĂ€dagogische Konsequenzen

B. Leitlinien fĂŒr die historisch-politische Behandlung des Themas /
Fallbeispiele

 

 

update 1.5.2024

Diese Handreichung gibt es auch als pdf: hier

 

 

Der Nahostkonflikt und die „Israelfrage“ sind ein unhintergehbares Essential fĂŒr die  Auseinandersetzung mit Antisemitismus. Der unfassbare Terrorakt der Hamas mit einem seit 1945 nicht mehr fĂŒr möglich gehaltenen Pogrom [1] und alles, was dazu fĂŒhrte und noch daraus folgen mag, sollten das spĂ€testens jetzt jedem vor Augen fĂŒhren, der bislang dies bislang mit gutem oder schlechtem Gewissen verdrĂ€ngt hat.

Im Folgenden werden zuerst die Probleme geschildert, die ein adĂ€quates VerstĂ€ndnis der Geschichte Israels und des Nahostkonflikts verhindern oder zumindest behindern. Damit verbunden ist die Frage nach dem Umgang mit israelbezogenem Antisemitismus. Im Anschluss werden umgekehrt Leitlinien zusammengestellt, worauf bei der Thematisierung im Unterricht zu achten ist. Im Mittelpunkt steht hier der Geschichtsunterricht, analog gilt dies aber auch fĂŒr Religion oder Politik in ihrem jeweiligen Kontext.

 

 

[1] ErklÀrung des
 >Fritz Bauer Instituts

 

 

 

 

Problemaufriss

1. Die Geschichte verstehen

Bevor man urteilt, muss man verstehen, sonst entsteht daraus ein Vor-Urteil.

Beim Nahostkonflikt passiert aber strukturell genau dies: Wir urteilen viel zu  sehr, bevor wir verstanden haben, und ziehen dann noch unser VerstĂ€ndnis aus diesem Vor-Urteil. Verstehen heißt: warum etwas so geschehen ist. Das bedeutet keineswegs, a priori ein VerstĂ€ndnis dafĂŒr zu haben, d.h. im Sinne eines EinverstĂ€ndnisses.

Verstehen und VerstÀndnis, Urteil und Vorurteil sind hier aber kaum noch auseinanderzuhalten. Umso wichtiger ist es, genau diese Unterscheidung zu treffen.

Gibt es ein anderes historisches Thema, bei dem wir an jeder Stelle wie Richter urteilen, rechtfertigen oder verdammen? Die Geschichte muss als Geschichte verstanden werden, nicht als Verfahren vor einem Weltgericht.

Beim Nahostkonflikt werden in einer weit verbreiteten Gewohnheit auch zurĂŒckliegende historische Ereignisse nicht primĂ€r danach beurteilt, was die GrĂŒnde dafĂŒr waren, sondern was die Folgen davon sind, und zwar nicht historisch begrenzt auf den jeweiligen Kontext, sondern in der Weise, dass im RĂŒckblick jedes Ereignis tendenziell im Vorausblick auf heute gesehen und als stringent darauf hinfĂŒhrend verstanden wird. Normalerweise wollen wir wissen, verstehen und erklĂ€ren, wie etwas entstanden ist, also das GegenwĂ€rtige im Lichte des Vergangenen erklĂ€ren. Aber in diesem Falle wird das offenbar umgekehrt: Im Lichte der Gegenwart wird die Vergangenheit erklĂ€rt. Beispiel: Aus der Siedlerbewegung heute im Westjordanland wird auf die zionistische Ansiedlung nach dem 1. Weltkrieg geschlossen, sie sei auf die gleiche Weise erfolgt.

Es entsteht daraus eine lange, nicht nur kausale Kette von Ereignissen, sondern geradezu eine deterministische Verkettung von Etappen einer vermeintlich vorherbestimmten, weil gewollten und geplanten Geschichte der Eroberung und Aneignung von Land und Vertreibung der ansĂ€ssigen Bevölkerung. Diese Haltung ist keineswegs nur bei „klassifizierten“ Antisemiten oder extremen Vertretern einer antiisraelischen Position anzutreffen. Der RĂŒckblick von heute aus erklĂ€rt scheinbar logisch, wie die Geschichte verlaufen musste: als eine zielgerichtete Eroberung, die bis heute anhĂ€lt.

Israel steht dabei im Mittelpunkt und erscheint daher schon unbewusst als der Schuldige, alleine durch seine Existenz als „Grund des Konflikts“ und umso mehr dadurch, dass es aus allen bisherigen Kriegen siegreich hervorging und diese Siege durch ihre Konsequenzen wiederum eine friedliche und akzeptable Lösung in weite Ferne rĂŒcken. Damit verbunden wird oft das Eroberungsziel als der „wahre“ Kriegsgrund suggeriert, selbst wenn Israel angegriffen wurde, aber letztlich von diesem Angriff „profitiert“ habe.

Auch dabei ist zwischen Ursachen und Folgen zu unterscheiden: Wenn die Siedlungsbewegung im besetzten Westjordanland eine Folge von dessen Besetzung ist, so war sie nicht der Grund dafĂŒr und fing auch keineswegs unmittelbar danach an (gemeint ist die legalisierte Siedlung). Vielmehr gab es das Angebot „Land gegen Frieden.“ Die Siedlerbewegung profitierte aber vom Scheitern der Umsetzung des Osloer Friedensabkommens 1993 durch die politische Radikalisierung auf beiden Seiten, auf israelischer Seite durch die Ermordung von MinisterprĂ€sident Rabin 1995 und eine politische Rechtsentwicklung sowie auf palĂ€stinensischer Seite durch die SchwĂ€chung der verhandlungsbereiten FĂŒhrung der Fatah durch Extremisten, die 2. Intifada und schließlich die Machtergreifung der Hamas in Gaza 2007, die seither das Geschehen dominiert.

 

 

 

2. Antiisraelismus und Antisemitismus

In der Auseinandersetzung darum hierzulande reduzieren jedoch auch viele Antisemitismus- experten ihren Analysehorizont aber darauf, den israelbezogenen Anitsemitismus nur „als Form modernisierter Judenfeindschaft“ [2] zu verstehen: Israel wird von den Antisemiten als jĂŒdischer Staat wahrgekommen – wozu es sich ja auch selbst erklĂ€rt hat – und als solcher stellvertretend fĂŒr alle Juden attackiert. Diese Analysen, die den Antiisraelismus in den Antisemitismus integrieren, sind vom PhĂ€nomenologischen her gewiss zutreffend. Der Antiisraelismus wird dadurch aber nicht als Spezifikum analysiert, sondern nur als Projektion des (herkömmlichen) Antisemitismus wahrgenommen und erklĂ€rt. Es ĂŒbernimmt gewissermaßen das jĂŒdische SelbstverstĂ€ndnis Israels als Schema fĂŒr die Analyse des Antiisraelismus als Antisemitismus.

Der Staat Israel stellt nicht nur im Sinne des Zionismus die RĂŒckkehr in die alte Heimat nach der erzwungenen Diaspora dar, sondern er ist nach der Shoa auch zum einzigen und einmaligen Schutzraum fĂŒr die Überlebenden und ihre Nachkommen geworden. Der Zionismus wurde von den Antisemiten, wie Rensmann gut darstellt, schon vor der StaatsgrĂŒndung als Eroberung einer territorialen Machtbasis fĂŒr das  „Weltjudentum“ denunziert. Der Post-Shoa-Antisemitismus kann jedoch nicht nur als die Fortsetzung dessen erklĂ€rt werden. Mit anderen Worten: Man kann den Antiisraelismus nicht adĂ€quat ohne Israel, seine Vorgeschichte und Geschichte verstehen, die antisemitische Komponente kann eine mehr oder weniger starke Komponente dabei sein, muss es aber nicht zwingend: Kritik an der israelischen Regierungspolitik ist per se noch nicht antisemitisch.

Antiisraelismus entsteht also nicht zwangslĂ€ufig aus vorgĂ€ngigem Antisemitismus, aber aus Antiisraelismus kann sehr wohl Antisemitismus entstehen, wie die jĂŒngste Entwicklung mehr als deutlich macht.

Die spezifische „Israelkritik“, die auf keinen vorgĂ€ngigen Antisemitismus zurĂŒckgeht, v.a. im Kontext des linken „Antiimperialismus“, muss als solche analysiert werden. Die Geschichte Israels und damit auch des Nahostkonflikts, auf die sich diese „Israelkritik“ explizit bezieht, bleibt in den PrĂ€ventions- und pĂ€dagogischen Strategien zu nebensĂ€chlich oder gar außen vor. Wer jedoch auf die Anklage, Israel sei durch Landraub von der palĂ€stinensischen Bevölkerung entstanden und setze dies seit seiner GrĂŒndung fort – das Paradigma der fundamentalen Israelkritik -, nicht adĂ€quat, d.h. historisch, antworten kann, hat die Auseinandersetzung damit bereits verloren.

 

 

 

[2] Lars Rensmann: Israelbezogener Antisemitismus,
>BpB, 11.12.2021

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

3. PĂ€dagogische Konsequenzen

Das aktuelle Angebot von Ufuq, „Solidarisch gegen Terror“ – um ein Beispiel zu nennen –, gibt Anregungen fĂŒr eine Unterrichtsstunde. Diese und andere Initiativen wie KigA, BildungsstĂ€tte Anne Frank u. a. setzen bislang v.a. auf Menschenrechtsbildung gegen eine emotionale Solidarisierung mit der Hamas und grundsĂ€tzlich gegen Gewalt als Mittel zur Austragung politischer Konflikte und wollen der Radikalisierung entgegenwirken. Initiativen wie Ufuq und KigA wenden sich dabei insbesondere gegen Islamismus und damit verbundenem AS spezifisch aus der Perspektive von Veranstaltern heraus, die selbst der muslimischen Community angehören. Gegen die Gefahr antimuslimischer Reaktionen betonen sie auch zu Recht „Antisemitismus lĂ€sst sich nicht mit Rassismus bekĂ€mpfen“ [3].Nach dem 7.10. stellt sich jedoch in Bezug auf den israelbezogenen Antisemitismus dringender die Frage, ob diese Strategie reicht.

In diesem Angebot von Ufuq geht es laut taz „weniger um die HintergrĂŒnde des Konflikts, sondern darum, wie Lehrer:innen mit den schnellen aufbrodelnden Emotionen umgehen können. Die Initiative empfiehlt darin, gegenseitiges VerstĂ€ndnis zu fördern, indem sich die SchĂŒler:innen mit verschiedenen Standpunkten und Stellungnahmen auseinandersetzen.“ Diese Passage des taz-Artikels erschien, nebenbei bemerkt, nur in der Online-Ausgabe, in der Printausgabe wurde sie weggekĂŒrzt, vielleicht aus PlatzgrĂŒnden. Damit traf es aber vielleicht die wichtigste Stelle des Artikels. [4]

Man kann diesen Ansatz als KonfliktpĂ€dagogik bezeichnen und diese hat ihre Berechtigung und gewiss eine große Bedeutung. Doch auch eine erweiterte Thematisierung des Nahostkonflikts in dieser Perspektive allein löst nicht die grundlegenden Probleme, die aus dessen Geschichte und einem mangelhaften Wissen darĂŒber und/oder einer einseitigen Sicht darauf beruhen. Entsprechende Rollenspiele unter SchĂŒler:innen können auch dazu fĂŒhren, dass sich die jeweiligen Kontrahenten bewusst in eine radikale Perspektive einĂŒben, aus der per se nicht das erwĂŒnschte Aufeinanderzugehen erfolgt. Inhaltliche Aussagen wie „Israel hat den PalĂ€stinensern ihr Land geraubt“ werden damit alleine nicht dekonstruiert.

Fazit: KonfliktpÀdagogik ist notwendig, aber ohne historisch-sachbezogene Auseinandersetzung unzureichend.



 

 

[3] Interview mit Jouanna Hassoun anlÀsslich der Gewalteskalation in Israel und PalÀstina, 18.10.2023, >ufuq

 


 

[4] Nahostkonflikt an Schulen,  199.10.2923, >taz

 

 

 

 

Leitlinien fĂŒr die historisch-politische Behandlung des Themas:

Die Leitlinien gelten fĂŒr das richtige didaktisch-methodische Vorgehen der LehrkrĂ€fte inkl. der richtigen Reaktion auf problematische SchĂŒlerĂ€usserungen. – „Richtig“ heißt hier: wahrheitsgetreu bzgl. der Fakten (entspr. Wissen ist Voraussetzung), sachgerechte, argumentative Beurteilung statt wertender (Vor-)Verurteilung, Trennung von Analyse und Stellungnahme.

Oberste Maxime nach der deutsch-israelischen Schulbuchkommission (und nicht nur deswegen) ist, den Fokus auf die reine Konfliktgeschichte zu vermeiden. Das ist allerdings in der hypothetischen Situation punktueller Lehrerfortbildung und/oder des entsprechenden Unterrichts mit der dafĂŒr begrenzten Zeit zugegebenermaßen unrealistisch. Umso mehr kommt es darauf an, diese Konfliktgeschichte trotzdem richtig zu behandeln.

1. Kein Geschichtsdeterminismus, d.h.:

ErklĂ€ren als Beantwortung der Frage „Warum?“; objektive Ursachen, subjektive GrĂŒnde, Motive, Perspektiven – Blick auf die unmittelbaren Folgen, d.h. keine Schlussfolgerung ĂŒber dazwischen liegende Etappen hinweg („1948 - und so ist das ist heute“).

1a) Subjektiver Determinismus: Handlungen nicht als rein voluntaristisch erklÀren

Darstellungen von Handlungen kollektiver Akteure als purer Ausdruck eines Willens verfĂ€llt in einen „subjektiven Determinismus“, im Sinne von: „Das wollten sie (immer schon), das machten sie dann auch...“, auch wenn der subjektive Aspekt natĂŒrlich ein Faktor von mehreren ist. (Vgl. auch 3 Pauschalisierung)

1b) Objektiver Determinismus: Handlungen nicht alleine durch Ă€ußere UmstĂ€nde erklĂ€ren

ErklĂ€rungen und damit verbundene Rechtfertigungen von HandlungszusammenhĂ€ngen durch Ă€ußere UmstĂ€nde, objektive Gegebenheiten etc. verfallen in „objektiven Determinismus“, oft „geopolitisch“ begrĂŒndet, aber auch im Sinne der Verkehrung des Voluntarismus in sein Gegenteil: „Sie hatten/haben ja keine andere Wahl.“

2. Handlungen in den Kontext einbetten, v.a. ĂŒber Israelis und PalĂ€stinenser hinaus:

Der Nahostkonflikt betrifft tatsÀchlich die ganze Region in drei Kriegen mit den Nachbarstaaten und der jahrzehntelangen Nichtanerkennung der Existenz Israels.

3. Pauschalisierungen vermeiden, auch wenn man manchmal von „den Israelis“ und „den PalĂ€stinensern“ sprechen kann.

Soweit möglich die jeweiligen Akteure oder Verantwortlichen konkret benennen. die beiden Konfliktseiten nicht als homogen, sondern differenziert darstellen.

4. Erfolge benennen, welche de facto „vergessen“, weil vom Fokus auf die Konfliktgeschichte ĂŒberschattet sind, d.h. erfolgreiche Verhandlungen und Abkommen / Kompromisse herausstellen.

5. Die „verpassten Chancen“ darstellen, d.h.

Gescheiterte Alternativen berĂŒcksichtigen; „was in der Vergangenheit nicht reĂŒssierte“ (Ernst Bloch) nicht als von vornherein „zum Scheitern verurteilt“ betrachten (vgl. 1 Determinismus und 4 Erfolge).

Sowie ganz grundsÀtzlich:

6. Methodische Richtlinien:

6a. Trennung von Darstellung, ErklÀrung und Wertung, d.h.

Darstellung von Begebenheiten soweit als möglich neutral, ErklĂ€rung der GrĂŒnde dafĂŒr ohne stĂ€ndige Wertung im Sinne eines Urteils mit Schuldzuweisung aus der heutigen Perspektive heraus (vgl. 1 und 6b).

6b. Unterscheidung zwischen Sachurteil und Werturteil

Sachurteil: Beurteilung (mit BegrĂŒndung) einer Sachaussage, ob zutreffend oder nicht, d.h. richtig oder falsch.

Werturteil: Bewertung eines Vorgangs oder einer Aussage nach bestimmten Kriterien (moralisch, politisch), ob gut oder schlecht.

Die fehlende Unterscheidung zwischen beidem kulminiert im Problem von

6c. KausalitÀt und Schuld

In der politisch-moralischen Diskussion ist die Bewertung fast immer mit der Schuldfrage verbunden. Das Sachurteil fragt nach Ursache und Wirkung, das Werturteil nach der Verantwortung bzw. Schuld. Doch eine Ursache ist noch nicht unbedingt schuldhaft. Beides, Ursache und Schuld. darf nicht miteinander verwechselt werden. (Siehe dazu unten die Fallbeispiele dazu).

 

 

 

Fallbeispiele:

Bei den Negativbeispielen geht es nicht um „Meinungsdelikte“, d.h. subjektive Wertungen (siehe Werturteil), sondern verfehlte Darstellungen von Sachverhalten mit einer vermeintlichen ErklĂ€rung.

Ad 1a) Subjektiver Determinismus

Das Beispiel, das sich de facto ĂŒberall findet und scheinbar vollkommen logisch den Konflikt in seinem Grundsatz erklĂ€rt, ist: „Beide streiten sich um dasselbe Land.“ Diese Aussage ist insofern falsch, als die jĂŒdische oder spĂ€ter israelische Seite den UN-Teilungsplan 1947 fĂŒr die StaatsgrĂŒndung 1948 akzeptierte, die arabische Seite jedoch nicht, weswegen Israel nach der StaatsgrĂŒndung von den Nachbarstaaten der Krieg erklĂ€rt wurde. Der Anspruch auf das ganze Territorium in den Grenzen des britischen Mandats PalĂ€stina wurde von den arabischen Staaten und den PalĂ€stinensern noch lange nach dem Sechstagekrieg 1967 aufrechterhalten und von der PLO erst in den Osloer Abkommen 1995/96 aufgegeben.

Ad 1b) Objektiver Determinismus

Bei der Frage nach dem Extremismus, Anwendung von Gewalt, wird man hinsichtlich der palĂ€stinensischen TerroranschlĂ€ge hĂ€ufig mit dem Argument konfrontiert: „Sie haben ja keine andere Wahl.“ Damit soll eine eigene sachbezogene Wertung (gut oder schlecht) vermieden und das gewĂ€hlte Mittel zur Erreichung eines gerechten, legitimen Widerstandes als alternativlos dargestellt werden. NatĂŒrlich gibt es eine andere Wahl: Die Geschichte des Nahostkonflikts selbst zeigt, dass die erste Intifada, kein wirklich gewaltfreier, aber vergleichsweise gewaltarmer Widerstand der Zivilbevölkerung 1987ff. mehr Wirkung erzielt hat als alle Kriege und Terrorakte vorher und nachher, weil er die AnnĂ€herung beider Seiten zum Osloer Abkommen hin gefördert hat. Dasselbe Argument „keine andere Wahl“ kann natĂŒrlich auch von Seiten der israelischen Regierung zur Legitimierung ihrer Entscheidungen kommen. Auch hier gilt, dass natĂŒrlich keine politische und militĂ€rische Entscheidung der Diskussion darĂŒber entzogen werden kann, auch wenn es in EinzelfĂ€llen echte Dilemmas geben mag. Pauschale Beurteilungen im RĂŒckblick wie „Daraus konnte nichts werden“, „Das konnte nur misslingen“ u.Ă€. sind deterministische ErklĂ€rungen, die die menschliche Handlungsfreiheit leugnen.
 

 

 

Ad 2: Handlungen in den Kontext einbetten

Zum Beispiel zum Thema Vertreibungen von PalĂ€stinensern 1948 auch die Vertreibungen jĂŒdischer Bevölkerung aus dem Irak und anderen arabischen Staaten erwĂ€hnen, die auf den UnabhĂ€ngigkeitskrieg folgten. Hier geht es nicht um eine Aufrechnung, obwohl diese nicht zu vermeiden ist, sondern darum, den Horizont des Konflikts zu verdeutlichen und einseitige Be-/Verurteilungen, die durch dessen Ausblendung entstehen, aufzulösen. Ein anderes Beispiel fĂŒr den notwendigen Kontext ist die Entstehung des Sechstagekrieges. Wenn die israelische Seite diesen als PrĂ€ventivkrieg gegen einen bevorstehenden Ă€gyptischen Angriff legitimiert, so muss dieses Argument ĂŒberprĂŒft werden, bevor man eine Wertung dazu abgibt. Oder aktuell das Argument der Selbstverteidigung Israels im Gazakrieg 2023. Nur von einem Rachefeldzug zu sprechen, auch wenn es Äußerungen der Rache von israelischen Politikern nach dem Massaker vom 7.11. gab, ĂŒbergeht die Zielsetzung (Ausschaltung) der Hamas, die fĂŒr eine adĂ€quate Beurteilung notwendig ist, unabhĂ€ngig davon, wie die daraus folgende Bewertung aussehen mag (siehe dazu auch 6c)..

Ad 3: Pauschalisierungen vermeiden

Soweit möglich die jeweiligen Akteure oder Verantwortlichen konkret benennen: Regierung, MilitĂ€r, PLO/Fatah, palĂ€stinensische Autonomiebehörde, Hamas etc.; die Identifizierung der Hamas mit „den PalĂ€stinensern“ oder „dem Recht der PalĂ€stinenser“ etc. ist von der Hamas gewollt, wer dem folgt, rechtfertigt ihre Strategie. Auf die verschiedenen, auch kontroversen Positionen auf jeder Seite verweisen, z.B. zwischen Fatah und Hamas, Regierungen und Opposition in Israel oder selbst innerhalb von Regierungsmehrheiten (siehe 5: Sharon), und grundsĂ€tzlich zwischen Extremisten und demokratischen KrĂ€ften unterscheiden.
 

 

 

Ad 4: Erfolge benennen

HauptsĂ€chlich den Vertrag von Oslo 1993, fĂŒr den beide Seiten (Premierminister Rabin und Außenminister Peres fĂŒr Israel, Jassir Arafat fĂŒr die PLO) einen Friedensnobelpreis bekommen haben, und die Nachfolgeregelungen. Die Torpedierung des Friedensabkommens in den folgenden Jahren macht dieses Abkommen nicht wertlos, „daraus konnte nichts werden“ usw., vielmehr ist nach den GrĂŒnden dafĂŒr zu fragen. Die Tatsache der verschiedenen Abkommen widerlegt die Behauptung, dass Frieden durch Ausgleich grundsĂ€tzlich nicht möglich sei. Aussagen wie die von UN-GeneralsekretĂ€r Guterres am 24.10.2023, dass “das palĂ€stinensische Volk 56 Jahren erdrĂŒckender Besatzung unterworfen” sei [5](>FAZ 25.10.23), suggeriert einen dauerhaften Willen zur Besatzung seit 1967, indem es die besagten Abkommen  leugnet.

Ad 5: Die „verpassten Chancen“ darstellen

Dies ist eng mit 4 verbunden. Verpasste Chancen situieren sich noch vor dem Zustandekommen von VertrĂ€gen. Hier ist v.a. an die Situation nach dem Sechstagekrieg 1967 zu denken, als das Angebot „Land gegen Frieden“ im Raum stand, vgl. auch UN-Resolution 242. FĂŒr diese verpasste Chance gibt es konkrete GrĂŒnde und keine deterministische ErklĂ€rung der Unmöglichkeit; zu nennen sind hierzu die „drei Neins“ der Arabischen Liga und die Tatsache, dass dies den politischen KrĂ€ften in Israel in die HĂ€nde spielte, die aus den besetzten Gebieten vollendete Tatsachen schaffen wollten (u.a. durch die Siedlungsbewegung). Eine andere und gravierende verpasste Chance ist die RĂ€umung Gazas durch die israelischen Besatzungstruppen 2005 unter MinisterprĂ€sident Ariel Sharon. Die war ein konkretes und einseitiges Angebot „Land gegen Frieden“, Sharon hatte die Mehrheit seiner Likud-Partei gegen sich und die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Dies fĂŒhrte zur Regierungskrise und zur Spaltung der Partei, Sharon grĂŒndete die neue Partei Kadima (ein Beispiel fĂŒr die Differenzierung, siehe 3). Sein Nachfolger Ehud Olmert weitete das aus zum großzĂŒgigsten Angebot der RĂ€umung des Westjordanlandes, das bis dahin unterbreitet wurde (2008). [6] Die PLO hĂ€tte in Gaza ein Vorbild fĂŒr den demokratischen und friedlichen Aufbau einer Teil-SouverĂ€nitĂ€t liefern können, doch die Hamas torpedierte dies und eröffnete sofort die Feindseligkeiten gegen Israel um jede Verhandlungslösung unmöglich zu machen - mit Erfolg. Mit dem Terroranschlag und Krieg 2023 zĂ€hlt man seit 2006 sieben Gaza-Konflikte oder -kriege.
 

 

 

 

{5] Guterres’ Israelkritik, 25.10.2023, >FAZ - Im engl. Original „erstickende“ (suffocating) Besatzung, dazu ausfĂŒhrlich cf. Anm. 7.

 

 

 

 

 

 

 

[6] Cf. Geschichtslehrer- forum: Sharon-Plan / Olmert-
Plan

Ad 6c: Zwischen KausalitÀt (Ursache und Wirkung) und Schuld unterscheiden

Die fehlende Unterscheidung zwischen Sach- und Werturteil kulminiert in der Vermischung zwischen KausalitĂ€t und Schuld. Zum Repertoire des klassischen Antisemitismus gehört, die Juden selbst fĂŒr Antisemitismus verantwortlich zu machen, ihnen die Schuld daran zuzuschreiben, und den Antisemitismus in der NS-Sprache als „gesundes Volksempfinden“ zu rechtfertigen. Auch Kern des Buches von Theodor Herzl war, dass die Judenemanzipation gesellschaftlich nicht akzeptiert sei selbst da, wo sie rechtlich vollzogen war, und dass Juden ĂŒberall da, wo sie hinkĂ€men – Bezug auf die FlĂŒchtlinge vor den Pogromen in Russland –, neuen Antisemitismus erzeugten. Klassisches Beispiel wĂ€re die Reaktion auf die Einwanderung von Ostjuden in Deutschland und die Entstehung des Antisemitismusbegriffes selbst 1879. NatĂŒrlich verstand Herzl dies nicht als Schuldfrage: Die PrĂ€senz von Juden löste Antisemitismus aus, sie hatten aber keine Schuld durch ihr Verhalten daran, es sei denn, durch ihre pure Existenz (dies wĂ€re dann der Weg zum Holocaust).
Ursache und Wirkung wird nun in der Nahostdebatte permanent mit der Schuldfrage verwechselt und dabei auch der Terrorismus der Hamas mit der israelischen Besatzungspolitik erklĂ€rt, d.h. diese fĂŒr die Terroraktionen verantwortlich gemacht und letztere damit ent-schuldigt: „Sie haben ja keine andere Möglichkeit, sich zu wehren“ ist so oder so Ă€hnlich ein hĂ€ufiger Satz auch unter SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern. Die Terrorangriff der Hamas vom 7.10. wurde auch vom GeneralsekretĂ€r der UNO damit erklĂ€rt, dass er „nicht im luftleeren Raum stattfand“ usw., womit er die Schuld daran, dass es soweit gekommen ist, ursĂ€chlich der israelischen Besatzungspolitik zuschrieb, auch wenn er die Tat selbst verurteilte [7].  Ursache und Wirkung ist aber nicht per se identisch mit Verantwortung und Schuld. Verantwortlich fĂŒr den Antisemitismus ist der Antisemit selbst, der Terrorist fĂŒr seinen Terrorismus, auch wenn es immer GrĂŒnde fĂŒrs menschliche Handeln gibt. Diese Ursachen entschuldigen aber nicht die Tat.

 

Wolfgang Geiger, update 1.5.2023

Diese Handreichung gibt es auch als pdf: hier

 

 

 

 

 

 

 

[7] AusfĂŒhrlich dazu auf der Seite >Zivilisationsbruch

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